Im Hotel bekam ich mitleidige Blicke, als ich mich noch einmal vergewissert hatte, ob der von mir ausgewählte Weg wohl auch der richtige wäre. Der Portier empfand es einfach exotisch, dass sich jemand zu Fuß bis nach Chinatown auf den Weg machte. Für einen Amerikaner war es, wie ich immer wieder feststellte, kaum vorstellbar, solche Strecken nicht mit dem Auto zurückzulegen. Und so bestätigte mir unser Rezeptionist zwar die Richtigkeit meiner Routenplanung, konnte sich aber doch nicht verkneifen festzustellen: „Zu Fuß nach Chinatown? Das ist doch nicht normal!“
Ich für meinen Teil freute mich darüber, wie vertraut mir nach den wenigen Tagen die Straßen schon waren und wie einfach die Orientierung allein anhand der gigantischen Wolkenkratzer gelang. Von wegen gesichtslose Downtowns! Vom 344 m hohen Hancock Tower über die Michigan Avenue in Richtung Sears Tower, der mit seinen 442 m über allem dominierte und noch heute das höchste Gebäude der Stadt ist. Die Magnificent Mile entlang, ein kurzer Abstecher zum Lake Shore Drive um den Kontakt zum Michigansee nicht zu verlieren und schon war der „Loop“, dieses quirlige Herzstück der Metropole fast durchquert. An diesem Sonntagmorgen herrschte noch herrliche Ruhe hier und der Blick kann ungestört von der sonst üblichen Hektik umherschweifen.
Die Hochbahn, die den „Loop“ umkreist und ihm den Namen gibt, bog ab auf ihrer ewigen Runde und zeigte an, das der Weg frei war, das erste Tagesziel anzusteuern. Ein Ziel, das eigentlich ein Start ist - denn hier beginnt sie, die wohl berühmteste aller amerikanischen Straßen - die legendäre Route 66!
Auch wenn sie heute zumeist nur noch bruchstückhaft vorhanden ist, so spiegelt doch kaum ein anderes Stück Asphalt so sehr Träume, Fernweh und Emotionen wider. Allerdings gehört auch hier schon einiges an Fantasie dazu, den Beginn der Legenden umwobenen Straße zu erkennen. Eine breite Interstate nimmt die winzige Auffahrt, die die alte Route 66 war, in sich auf und führt sie spektakulär unter dem Postgebäude mit der größten Grundfläche der Welt hindurch.
Und während in dieser gigantischen Poststation Unmengen an Briefmarken abgestempelt werden, rollen unter ihr unzählige Autos mit gesitteten 65 Meilen pro Stunde auf 8 Spuren nach St. Louis und nehmen auch einen Teil meiner Träume mit in Richtung Westen. Irgendwie ist es immer wieder erstaunlich festzustellen:
Obwohl man gerade in einer faszinierenden Stadt angekommen ist, diese noch gar nicht erkundet hat, sind die Gedanken schon wieder unterwegs zu neuen, ferneren Gegenden – der Weg bleibt eben doch immer irgendwie das Ziel! So in Gedanken versunken, geht mein Weg aber jetzt weiter in Chicago's chinesisches Viertel.
Den Glanz der Downtown in meinem Rücken noch deutlich spürbar, hatte sich das Straßenbild doch erstaunlich verändert. Auf der einen Seite einige schön restaurierte Holzhäuser aus den Jahren der Pioniere, wartete die andere Straßenseite mit ihrem morbiden Charme wohl darauf, was sich Stadtplaner zukünftig hier einfallen lassen.
Da das nach wie vor wenig erfreuliche Wetter diesen Eindruck noch um einiges verstärkte, kam mir die Kneipe gerade recht, um etwas Aufwärmendes zu mir zu nehmen. Beim Eintreten bemerkte ich sofort, das sich das Ambiente des Raumes nahtlos an das äußere Erscheinungsbild des Gebäudes anpasste.
Umso größer war mein Erstaunen, dass eine Band Live Music spielte und eine äußerst farbenfroh gekleidete Sängerin den Eindruck der Räumlichkeit völlig überstrahlte. Als Gäste waren außer mir nur ein paar Bauarbeiter zu sehen, die offensichtlich ihre Frühstückspause hier machten, bevor sie die Straßenschäden vor der Tür weiter reparierten.
Mein Erscheinen hatte auch die Band in einigermaßen Erstaunen versetzt, denn sie unterbrachen ihr spielen und kamen fragend nach dem woher und wohin auf mich zu. Sie waren offensichtlich genauso verblüfft über die Tatsache, dass ein Deutscher bei diesem Wetter, um diese Zeit und auch noch zu Fuß hier ankommt, wie ich darüber, hier auf diese Band zu treffen!
Nach ein paar freundlichen Floskeln und dem ersten kalten Bier (vergessen, das ich eigentlich was zum Aufwärmen wollte), hatte ich mitbekommen, dass hier geprobt wurde und zwar ganz bewusst hier, weil sich niemand hier her verirrt - es sei denn, es kommt jemand aus Germany daher.
Beim nächsten Song wurde ich stutzig. „Ist das nicht….?“ Ich schlenderte zu den Jungen von der Baubrigade. „Sagt mal, ist das ….“ „Klar, das ist Shirley King und ihre Band, wurde meine Vermutung zur Tatsache geadelt. Hätte mir jemand gesagt, ich treffe in dieser Ecke einen Weltstar, der wäre von mir mit Sicherheit für verrückt erklärt worden. That’s America! Shirley hatte wohl mitbekommen, dass nun bei mir der Groschen gefallen war und sie unterbrach erneut die Probe.
Lächelnd kam sie an den Tisch und wir unterhielten uns ganz angeregt. Ja, sie ist die Tochter von B. B. King, dem legendären „King of Blues“ und wohl größtem Interpreten dieses Musikstiles.
Ich kannte Shirley natürlich als „Tochter des Blues“ und ließ sie an meinem Wissen teilhaben. Lachend erwiderte sie, dass sie mit diesem Titel gut leben kann, aber sie ist als Sängerin mit der eigenen Performance doch um einiges vielfältiger. Sie ist natürlich mit dem Blues aufgewachsen und die Popularität ihres Vaters hat ihr in den Anfangsjahren sehr geholfen, auch manche Tür geöffnet.
Später erzählte sie mir, dass sie in Memphis geboren und aufgewachsen ist und dort auch begann, im Kirchenchor zu singen. Mit 13 Jahren traf sie auf Etta James und später auf Mahalia Jackson, die ganz wesentlich auf ihre gesangliche Entwicklung Einfluss nahmen. Dem Blues wandte sich Shirley relativ spät zu, trat aber mit Stars wie Ottis Clay, Jerry Buttler oder Eddie Clearwater und natürlich auch mit ihrem Vater auf. Dabei reicht ihr Spektrum vom traditionellen Blues über Gospel bis zum Funk oder Soul.
Ja und davon konnte ich mich dann im Verlauf der weiteren Probe wahrlich überzeugen. Meiner Bitte, die Probe mit meiner Kamera aufnehmen zu dürfen, wurde freundlich zugestimmt und so gab es ein regelrechtes Konzert, getragen von wahnsinniger Power und einer einzigartigen Ausstrahlung!
Mein Blick schweifte von den Musikern durch den Raum bis zum Fenster, und von da auf das Dach des gegenüberliegenden Hauses mit
dem alten, geteerten Wasserbehälter, der überhaupt nicht mehr in unsere Zeit passen wollte und so langsam wurde mir klar,
dass diese Musik und dieses Umfeld sich einander vollkommen bedingen und dass eine solche musikalische Wucht nur hier und
so entstehen kann.
Es war ein absolutes Glück, dies einmal so urgewaltig miterleben zu dürfen!
Für den Abend war ein Auftritt im weit über Chicago hinaus bekannten Szeneclub „Blue Chicago“ angesagt, zu dem ich
auf der Stelle eingeladen wurde und versehen mit tollen Bildern, der Aufnahme der Session, herzlichen Umarmungen
und jeder Menge Telefonnummern und Emailadressen verließ ich erst am Nachmittag die Kneipe.
Natürlich gehört ein wenig Glück dazu, einen solchen Star so zu treffen, aber es lehrt auch eines:
Ohne Fußmarsch wäre das nicht passiert!
Nun noch schnell auf nach Chinatown, denn es ist doch recht spät geworden. Im Schnelldurchlauf ein paar Impressionen einfangen und dann mit dem Zug zurück in die City, sonst wird es nichts mit dem Treffen im „Blue Chicago“.
Das platzt bei meinem Eintreffen fast aus allen Nähten. Der Club ist zwar regelrecht überfüllt, verbreitet aber eine sehr freundliche Atmosphäre, doch an die große ovale Theke heranzukommen ist schlicht aussichtslos und selbst die alten Poster an den Ziegelwänden sind mehr zu erahnen als zu sehen. Den Auftritt selbst konnte ich nur akustisch wahrnehmen, so sehr war alles von den Leuten verdeckt. Einmal winkte Shirley in meine Richtung. Meinte sie mich? Nein, nein in diesem Trubel unmöglich! Stimmte mich aber nicht sehr traurig, immerhin hatte ich große Teile des Auftrittes heute schon gehört und gesehen und sogar mit der Kamera aufgezeichnet.
So konnte ich den Abend genießen, kam mit allen möglichen Leuten ins Gespräch und irgendwann gelang es mir sogar, an der Bar einen Drink zu ordern. Den konnte ich alleine schon deshalb ganz gut gebrauchen, weil ich mich so langsam auf das Abschiednehmen von dieser Stadt vorbereiten musste was mir, ich gestehe es ein, etwas schwerer fiel, als von manch anderem Ort.
Und als es am nächsten Morgen dann ernst wurde, und ich einen (vorerst) letzten Blick auf die Skyline, den Michigansee, den Loop und einige der mir inzwischen fast vertrauten Straßenzüge warf, hörte ich ihn in meinen Gedanken ganz deutlich – den Chicago Blues und ich dachte an Rudyard Kipling, der einmal nach einem Besuch gesagt haben soll: "Eine Stadt hat mich gerührt... eine wirkliche Stadt. Und diese Stadt heißt Chicago. Andere Orte zählen da nichts."
Okay. Mr. Kipling, es gibt schon noch ein paar mehr ganz nette Orte auf der Welt, aber so unrecht haben sie nun auch wieder nicht!
Adresse: