Chattanooga traf seine Wahl für die Umwelt lange vor dem weltweiten Finanzdebakel. Eisen, Kohle und Stahl hatten die Stadt am Tennessee River groß gemacht. Doch der Preis war hoch. Straßenlaternen leuchteten rund um die Uhr, weil der Smog alles in einen giftigen Nebel tauchte. Dann der Niedergang: Eine Gießerei nach der anderen entließ ihre Arbeiter; die Hochöfen erloschen. Ron Littlefield, damals junger Stadtplaner, heute der Oberbürgermeister, hat nicht vergessen, was Chattanooga damals lernen musste: „Geld ist wichtig, aber nichts mehr wert, wenn die Umwelt zugrunde geht.“
Heute wählen amerikanische Zeitschriften Chattanooga regelmäßig unter die Städte Amerikas mit der höchsten Lebensqualität. Chattanooga gilt als eine der attraktivsten und saubersten Städte der USA. Adler kreisen über dem Tennessee River, wo sich früher der Smog staute.
Die 40 Jahre vom ökologischen Kollaps zum touristischen Ziel, das in kaum einem USA-Reiseveranstalterkatalog fehlt, sind eine Erfolgsgeschichte der kleinen Schritte. Als noch kaum jemand vom Umweltschutz sprach – und schon gar nicht vom Weltklima – begriff Chattanooga die Natur als seine Schicksalsfrage. Zuerst investierte die örtliche Industrie Millionen in Rußfilter für die Schlote. In den Parks der Stadt, jahrelang vernachlässigt, machten sich Gärtner ans Werk. Haus für Haus wurde die Innenstadt renoviert.
Mit dem Tennessee Aquarium setzte sich Chattanooga im Jahr 1992 einen neuen Mittelpunkt. Das größte Süßwasseraquarium der Welt am Tennessee River zeigt die Biotope aller Gewässer von Tennessee mit ihren Pflanzen und Tieren. Fast jedes Schulkind aus Chattanooga hat dort von Biologen gehört, wie wichtig der Schutz der Natur ist. Engagierte Bürger haben kürzlich durchgesetzt, dass die Halbinsel in der Flussschleife gegenüber dem Aquarium zum Nationalpark erklärt wird. Eine Wildnis vis-a-vis vom Stadtzentrum mit dem höchsten Status aller amerikanischen Naturschutzgebiete – das hat keine andere Großstadt in den USA.
Chattanooga hat das über lange Jahre zubetonierte Flussufer im Zentrum aufwändig renaturiert. Dem Tennessee Aquarium schließt sich jetzt mit der Riverfront eine schöne Uferzeile an, die bis ans Wasser führt und jedes Jahr im Juni zum Riverbend-Stadtfestival für Kunst, Musik und Natur Hunderttausende anzieht.
Lookout Mountain ist das zeitlose Wahrzeichen von Chattanooga. Der mehr als 160 Kilometer lange Hausberg flankiert die Stadt an seinem höchsten Scheitelpunkt, dort wo er zum Tennessee River steil abfällt. Auf dem 729 Meter hohen Grat finden sich seit sieben Jahrzehnten Touristenattraktionen, die ohne Umweltverschmutzung und Energieverschwendung auskommen: In den Rock City Gardens wandert man zwischen Felsen durch einen der ungewöhnlichsten Gärten der USA und hat vom Granitblock Lovers Leap freien Blick auf sieben US-Staaten. Unter dem Berg donnert am Ende eines Höhlen-Wanderwegs mit Ruby Falls der größte bekannte unterirdische Wasserfall.
Autofahrer finden in dieser Stadt Markierungen auf Parkplätzen “Low Emission Vehicles“. Wer mit einem Geländewagen daher kommt, hat das Nachsehen, denn solche Flächen sind Autos mit geringem Benzinverbrauch vorbehalten. Viele Chattanoogans verzichten ganz aufs Auto und nehmen lieber den Chattanooga Electric Shuttle. Die wendigen Elektrobusse surren seit 1992 fast geräuschlos zum Nulltarif durch die Innenstadt. Die Lastwagen der Stadtverwaltung fahren zu 20 Prozent mit Biodiesel – und der wird ausschließlich aus der Zellulose von Ernteresten gewonnen, nicht aus Lebensmitteln.
Wer genau hinschaut, erkennt auch an jeder Straßenampel, dass in Chattanooga etwas anders ist: Was als ein flächiges Grün, Gelb oder Rot erscheint, setzt sich aus vielen kleinen LED-Leuchtpunkten zusammen. Allein damit spart die Stadt jährlich Strom im Wert von mehr als 80 000 Dollar ein.
Ron Littlefield hat versprochen, den Ausstoß an Treibhausgasen in seiner Stadt bis 2012 um sieben Prozent unter den Stand von 1990 zu reduzieren. Die Bürger können sich online verpflichten, das „Versprechen des Oberbürgermeisters“ in ihrem Leben zu füllen: zum Beispiel, indem sie beim Einseifen in der Dusche nicht mehr das Wasser laufen lassen und Glühlampen gegen Energiesparlampen austauschen.
Oberbürgermeister Littlefield berief eine Expertengruppe, und seit Frühjahr 2008 arbeitet sein Green Committee einen Aktionsplan aus. Gesucht werden neue Wege des Umweltschutzes; mehr als tausend Vorschläge gingen in nur drei Monaten ein. Gene Hyde, Stadtförster und ehrenamtlicher Vorsitzender des Green Committee, setzt sich dort jeden Morgen um fünf Uhr an seinen Schreibtisch, kümmert sich hauptberuflich um die Aufforstung des Stadtgebiets und trifft sich abends mit den anderen Planern des grünen Wandels. „Bei uns arbeiten nicht nur Leute wie ich, die gerne mal einen Baum umarmen, sondern Menschen aus der Mitte der Community“, sagt der Forstmann ohne grünen Rock und Hund. Zu einem Bürgertreffen im August 2008 über die ökologische Zukunft Chattanoogas kamen mehr als 500 Menschen.
Auch andere Städte der USA engagieren sich für den Umwelt- und Klimaschutz. Bob Doak, Chef der Tourismuswerbung von Chattanooga, sieht aber einen Unterschied: „Wir sind vielleicht nicht allen voraus, aber niemand hat ähnlich große Fortschritte gemacht.“ Bob Doak schaudert es beim Rückblick. „Chattanooga wäre vor 40 Jahren beinahe gestorben. Wir hatten nichts mehr. Es gab keinen Grund, abends in die Stadt zu gehen.“ Heute reiht sich ein Restaurant an das andere, Mikrobrauereien erzeugen Bier aus ökologischen Zutaten ,Theater bieten Broadway-Shows und das Hunter Museum of American Art zeigt in einem imposanten Neubau auf einem Fels über dem Fluss die größte Sammlung amerikanischer Kunst in den Südstaaten.
Susan Moses ist eine CIA-Agentin – und zwar Absolventin des Culinary Institute of America in New York City, einer der führenden Akademien für Küchenchefs. Gemeinsam mit ihrer Schwester Sarah und der Mutter Maggie hat sie das erste, seit 2007 von einem amerikanischen Zusammenschluss umweltbewusster Restaurants als „grün“ zertifizierte Restaurant in Chattanooga aufgebaut. Das 212 Market Restaurant, in Sichtweite vom Tennessee Aquarium gelegen, kredenzt beste Weine aus ökologischem Anbau. Auf den Tisch kommen giftfrei und ohne Gentechnik angebaute Köstlichkeiten aus Tennessee: Tomaten in allen Farben, Paprika, die für die Südstaatenküche typischen Okra-Schoten und sogar Feigen. Das Restaurant heizt mit Sonnenkraft und betreibt so auch seine Klimaanlage, deren Filter aus Altpapier gefertigt sind.
Im Juli 2008 verkündete die Volkswagen AG, ihre Autofabriken in den USA würden in Chattanooga gebaut. Chattanooga setzte sich damit gegen viele Konkurrenten durch – und dies auch mit seinem Ruf, besonders umweltbewusst zu sein. Volkswagen wird in Chattanooga besonders sparsame Autos bauen und findet mit Chattanooga die Stadt, die dieses Image lebt. Ab 2011 sollen jährlich 150 000 Autos auf der Basis des Passat vom Band laufen, dann auch andere Modelle. 2000 Arbeitsplätze entstehen.
Auch an Chattanooga geht allerdings die jüngste Welt-Finanzkrise nicht spurlos vorbei. Viele Bürger haben Geld verloren, andere ihre Häuser und manche bangen um ihren Arbeitsplatz. „Das ist schlimm genug“, sagt Ron Littlefield, „aber die große Blase der Immobilienspekulation, die andernorts ganze Stadtteile zerstört, hat es bei uns nicht gegeben.“ Ohne die Lage schönreden zu wollen, spürt er doch eine gewisse Erleichterung: „Noch vor kurzem wurde der Stadtrat kritisiert, weil wir das Geld der Steuerzahler angeblich nicht kreativ genug angelegt hatten. Jetzt sind wir heilfroh, dass wir den sicheren Weg gegangen sind.“ Chattanooga könne jetzt Wissen des Krisenmanagements aus vier Jahrzehnten nutzen, das sich andere Städte erst noch erarbeiten müssen. „Damals haben wir gelernt, dass die Grundlagen für Leben und Wohlstand nicht in Banktresoren liegen, sondern in der Natur – und dass wir Wasser, Böden und Luft schützen müssen.“